Vikare in den Alpen
Das Überleben in den Alpen ist für viele Pflanzen sehr anspruchsvoll – verschiedene Lebensräume stellen unterschiedliche Herausforderungen dar. Meistern tun die Pflanzen diese auf ihre ganz eigene Art und Weise.
von Hans Conrad*

erschienen am Dienstag, 13. Augus 2021 im Sarganserländer.

Ostalpenenzian. Früher Ungarischer Enzian genannt, obwohl dort die Art nicht vorkommt. Dafür weiter im Osten in den Karpaten.

Typische Lebensgemeinschaften

Jeder Lebensraum stellt den Pflanzen besondere Herausforderung. Oft sind die schwierigen Bedingungen eines Standortes jedoch unscheinbar und man muss allenfalls genauere Kenntnisse über ökologische Zusammenhänge haben. Bei Pflanzengemeinschaften auf dem Berg und erst recht auf der alpinen Stufe sind die Probleme für das Überleben und die Anforderungen an die Pflanzen hingegen offensichtlicher: Kurze Vegetationszeiten, Wind, rasch abfliessendes Wasser, grosse Temperaturdifferenzen oder kargen Boden selektionieren die verschiedenen Pflanzenarten stark.

Wer sich im Sommer von der leuchtenden Farbenpracht der Alpenpflanzen dazu verleiten lässt, innezuhalten, stellt bald einmal fest, dass gewisse Arten oft zusammen vorkommen: Sie bilden typische Gemeinschaften auf regelmässigen Rasen, in Flachmooren, Riedern oder Hochmooren. Typische Pflanzen, die sich den Lebensraum Kalkgeröll teilen, sind zum Beispiel die Niedliche Glockenblume, das Breitblättrige Hornkraut, das Rundblättrige Täschelkraut und die Schwarze Schafgarbe

Niedliche Glockenblume – Beliebte Schlaf- und Schutzplätze für kleine Insekten

Breitblättriges Hornkraut

Rundblättriges Täschelkraut

Schwarze Schafgarbe: Eine Ostalpenpflanze mit grossem Verbreitungsgebiet in der Schweiz

Gerade in Kalkgebieten gibt es besonders viele ökologische Unterschiede und Pflanzen-gemeinschaften. Eine sehr blumenreiche Gesellschaft ist beispielsweise der Blaugras-Rasen mit Edelweiss, Alpenaster oder Kugelblume. Darin findet sich im Frühjahr auch die seltene Aurikel, die dort zusammen mit dem Kalk-Glocken-Enzian ein romantisches Pärchen bildet. Zu finden sind die Beiden unter anderem auf dem Tschuggen beim Gonzen.

Aurikel: Die Blätter weisen am Rand einen Belag ähnlich wie Mehlstaub.
Selektion durch das Muttergestein

Anders verhält es sich im alpinen Rasen, wo der Boden nur einen oder ein paar Zentimeter mächtig – also «dick» – ist. Hier spielt nämlich das darunterliegende Gestein eine besonders wichtige Rolle, denn es ist das Muttergestein, aus dem der Boden schliesslich entstanden ist. Dieses Gestein und seine Verwitterungsprodukte bestimmen weiter den pH-Wert und das Mineralienangebot des Bodens, die ihn für einige Pflanzen geeigneter machen als für andere. Bei Böden auf silikathaltigen Gesteinen wie Granit, Gneisen oder Verrucano – sie alle enthalten viel Silizium sowie Quarz und diverse andere Elemente – ist die Versorgung mit Mineralien ausgewogener als beispielsweise bei speziellen Böden auf Kalk oder Dolomit. Silikat- und quarzhaltige Gesteine verwittern zu sauren, stark mineralhaltigen Böden, der pH-Wert im Wurzelbereich schwankt zwischen vier und sechs. Kalke und Dolomit dagegen enthalten oft sehr wenige Nährstoffmineralien. Zudem selektioniert der pH-Wert, der sich von neutral bis schwach alkalisch (basisch) bewegt, das Angebot aufnahmefähiger Mineralien. Allerdings können tiefere Böden in Kalkgebieten trotzdem oberflächlich versauern, wenn der Abbau der Pflanzen in schattigen, feuchten Lagen gehemmt wird und sich dadurch mehr Humussäuren anreichern. Noch schwieriger ist ein Vergleich mit stark tonhaltigen Böden: Sie können sich ganz unterschiedlich verhalten.

Vikariierende Arten: Vertreten sich gegenseitig

Die Art der Gesteine prägt die Landschaftsformen, und aufmerksame Besucherinnen und Besucher erkennen bald einmal die Zusammenhänge zwi­schen dem Vorkommen bestimmter auffälliger Pflanzen und dem Boden.

Gelber Enzian mit den kreuzweis gegenständigen Blättern – ein Enzian Merkmal

Punktierter Enzian

So sehen wir den Gelben Enzian in den Kalkgebieten und den auf die Distanz sehr ähnlichen Punktierten Enzian auf silikathaltigen Böden. Man kann sagen, dass die eine Art die andere auf verschiedenen Bodenarten vertritt. Solche Paare nennt man vikariierende Arten, Stellvertreter, eben – Vikare. Der Gelbe Enzian ist sehr gross und leuchtet mit vielen Blüten weit von den Kalkhängen herunter. Er kommt auch im Jura vor, wo er die Mutter der «Grünen Fee» ist. Auch bei uns wird sein Aroma in alkoholischen Getränken geschätzt. Allerdings sollte man ihn nicht mit dem Weissen Germer verwechseln, denn dies könnte tödlich enden. Optisch zu erkennen ist der tödliche Doppelgänger daran, dass seine Blätter nie gegeneinander am Stängel stehen, sondern immer abwechselnd.
Vikare, vikariierende Arten, können bastardieren.

Vikariierende Arten gibt es sehr viele, doch sie sind nicht immer leicht zu erkennen. Einige Artenpaare bastardieren auch gelegentlich. Dann sollte man sich etwas umschauen: Sicherlich befindet man sich in einem Gebiet, in dem die beiden unterschiedlichen Gesteins­- und Bodenarten aneinandergrenzen. Die meisten botanisch nicht vorbelasteten Besucherinnen und Besucher der Alpen bemerken selten, dass der «klassische» Enzian, der Glocken­-Enzian, in zwei Arten vorkommt. Man muss schon genauer hinschauen, um den Unterschied zu erkennen: Einer ist der Kalk-Glocken-Enzian (früher Clusius Enzian), ein anderer der Silikat-Glocken-Enzian (früher Kochscher Enzian, Stängelloser Enzian).

Kalk Glockenenzian mit seinen sehr blauen Blüten. Hält sich sehr streng an basische , kalkige Böden.
Silikat-Glockenenzian mit seinen violett-grünen Buckeln in der Blüte.
Kalk Glockenenzian – reinstes Blau!

Ein drittes Enzianpaar gehört auch in dieselbe Kategorie vikariierender Arten: Der Purpur-Enzian (Haute­Savoie, Savoie, Schweiz, Churfirsten, Arlberg, Tirol) auf sauren Böden und der Ostalpen-Enzian auf Kalkböden. Der Ostalpen Enzian (Churfirsten, Arlberg, Tirol, Kärnten, Steiermark) ist damit auch eine Art geografischer Vikar. Will man ihn sehen, muss man schon beim Hinterrugg etwas auf die andere Seite ins Gluristal schielen – dort kommt er in den gefährlichen Karstfeldern vor.

Purpurenzian: Typisch auf silikatischen, sauren Böden und oft zusammen mit dem Punktierten Enzian.
Ostalpenenzian – der Schönste und der Seltenste unter den grossen Enzianarten. Rar geworden wegen der früheren Nutzung als Heilpflanze.

Das Sinnbild für Alpenflora ist das Dreigestirn aus Edelweiss, Alpenrose und Enzian (Glocken-Enzian). Wer weiss schon, dass es zwei sehr ähnliche Alpen-rosen gibt? In unseren Alpen die häufigere auf saurem Boden wachsende Rostrote Alpenrose und die streng auf Kalk und Dolomit wachsende Bewimperte Alpen-rose. Bei uns kommt sie an wenigen Stellen in den Flumserbergen und in den Weissen Steinen am Pizol vor. Sie hat behaarte Blätter, die auf der Unterseite grün bleiben und sich nicht rostrot verfärben.

Rostrote Alpenrose auf sauren Böden, auch über Kalkgestein mit saurer Humusauflage möglich.
Rostrote Alpenrose. Rotfärbung durch einen Pilz (nicht parasitisch)
Bewimperte Alpenrose – die Blätter bleiben immer grün und die Blüten leuchten in einem hellen Rot.
Ökologisch bedeutsame Faktoren

Es gibt Vertreter, Vikare, auch mit anderen ökolo-gischen Lebensbedingungen. Sehr bekannt unter ihnen ist etwas die Skabiosen-Flockenblume der tiefen Lagen und die wunderbar blau blühende Berg-Flockenblume der hohen Lagen. Andere vikariierende Arten betreffen Vorkommen im Osten sowie im Westen der Alpen, in den Randalpen und Zentralalpen oder auch Vorkommen in unterschiedlichen klimatischen Bedingungen, wie z.B. Luftfeuchtigkeit.

Ein weiteres schönes Paar sind die Kleine Soldanelle, auf eher sauren Böden und die Alpensoldanelle auf eher basischen Böden (Tschuggen)

Kleine Soldanelle: Das kleine Alpenglöcklein wächst in basenarmen Schneetälchen.

Auch der grosse gelbe «Schuh» ist ein Trickser. Er bietet Bienenarten einen Nistplatz an, wodurch das Insekt durch die Öffnung hineinkriecht und ausglei­tet. Es bemerkt die Nistplatztäuschung und will die Höhle verlassen. Das geht nur über einen nicht glitschigen Steg an den Narben und Pollinien vorbei. Für die Arbeit gibt es keinen Lohn. Al­lerdings könnte es auch von einer gel­ben Krabbenspinne in dieser Höhle ge­fangen und verspeist werden. Der Frauenschuh ist die einzige grosse Orchidee der Gattung Cypripe­dium in Europa. Zwei kleine, seltene Arten gibt es noch in Nordeuropa, das Hauptverbreitungsgebiet dieser Frau­enschuh-Gattung ist Nordamerika. In­teressant ist auch die Geschichte der Namensgebung: Cypris (gr.) bedeutet Bewohnerin Zyperns und Pedilon San­dale. Die griechische Schönheitsgöttin Aphrodite (lat. Venus) wohnte auch einmal dort, daher ihr Beiname Cypris. Paphos auf Zypern ist eine alte Kult­stätte der Aphrodite, wo sie ihrem Liebhaber Adonis nachgeeilt sein soll und einen Schuh verloren haben. Eine Schaf-hirtin fand den Schuh. Als sie ihn anziehen wollte, verwandelte er sich in eine Blume. In der Romandie heisst der Frauenschuh «sabot de Vénus».


Pflanzennamen
Die hier verwendeten Pflanzennamen entsprechen der neuen Systematik, wie sie in den Alpenländern vereinheitlicht ist und verwendet wird, sie entspricht der Namensgebung in der „Flora Helvetica“ 2018, 6.Ausgabe im Paul Haupt Verlag.
Alpenflora – ein unerschöpfliches Thema
  • Hans Conrad leitet unter anderem auch Führungen durch das Unesco-Welterbe Tektonikarena Sardona.